… und der Maskenball im Meeting – Room

Es ist der 2.12. 2019, 18:30 Uhr und ich sitze in der Sportsbar des Flughafens Göteborg – Lindvetter. Ich trinke das Island Bulldog der Gotlands Bryggeri, es handelt sich hierbei um ein New England IPA, das sogar die typischen „hazy“-trüben Nuancen hat, von denen mein Arbeitskollege Jeff so gerne sprichts. Vom tasting Profil kommt es in der Tat in die Bereiche der amerikanischen New England IPAs, allerdings vielleicht weniger fruchtbetont wie diese; noch spüre ich  nämlich keinen Mango-Grapefruit Kompott meinen Gaumen sanft umspielen.

Für mich ist es das erste Mal, dass ich Schweden besuche. Ein Sehnsuchtsort für viele, ein Sündenpfuhl für manche. Gestern habe ich mit meinem Kollegen die Innenstadt von Göteborg besichtigt. Obwohl über 500000 Einwohner, wirkt das Zentrum doch beschaulich und einladend. In versteckten Hinterhöfen historischer Speicheranlagen gibt es Weihnachtsmärkte mit sich überbietenden ökologischen und nachhaltigen Produkten, die dennoch in die typische Weihnachtsmarkt-Produkt Beschreibung passen, gemäß dem Motto „kurz interessant, lange vergessen“. Ich fühle mich noch nachhaltiger, indem ich einfach nichts kaufe. Die Stadt schwingt in dem Rhythmus der Nachhaltigkeits-Aufklärer. Die Läden und Bars sagen mir: „Edel sei der Mensch und gut“ und verkaufen mir dabei einen exzellenten Espresso aus äthipioschen Sidamo Bohnen. Es lebt sich gut auf Geschäftsreisen, wenn die Zeit einem erlaubt dem Ruf der Zivilisation zu folgen, anstatt nur in den Hotels in den Industriebereichen sich den Lobby-Lastern zu ergeben.

Der Abend schließt dann noch mit einem Besuch im Brewers Beer House. Eine dieser modernen Bierbars, für die ich eine Schwäche habe. Ich muss sie einfach aufsuchen, monomanistisches Ziel einer jeden Geschäftsreise. Wie der gemütliche Bart des Brauers sein warmes Lächeln unterstreicht, so bestärkt das Hip Hops IPA der lokalen Kleinstbrauerei Beerbliothek mein Gefühl des Wohlfühlens in der Ferne. Auf den Kopfhörern argumentiert der große Göteborger Jens Lekman, wie man am besten durch die Galaxien der Taxis kommt.

Ein Blick auf die Uhr. Es ist 18.40Uhr und mein Flug zurück nach Frankfurt ist immer noch mit einer Stunde Verspätung  angeschrieben. Werde wieder spät heimkommen, und Basketball verpassen.

Vor 9 Stunden traf ich mich mit einer Pharmafirma um mit den Forschern dort ein Projekt für die Formulierungswissenschaften zu besprechen. Ein Bereich der recht neu für Simulationen ist, also viel Diskussionsbedarf. Und wieder stellte ich für mich fest, was für eine seltsame Welt doch diese Projektbesprechungen mit Kunden sind. Wie unterschiedlich Menschen sich in Gruppen verhalten. Mein amerikanischer Kollege lebt die Nerdrolle, krasses Fachwissen gepaart mit Schwächen im Alltag. Mein lettischer Kollege, der unnachgiebige Wissenschaftler, der zu jeder Frage eine Antwort haben will, aber auch zu jeder Antwort eine Frage hat. Was ist meine Rolle? Spiele ich eine? Oder ich bin der, der ich wirklich bin? Wer ist schon er selbst in solchen Meetings, wenn die Persönlichkeit in friedlicher Koexistenz mit der Firmenpolitik lebt. Ich gebe mich witzig, versuche wortgewandt zu sein. Lobe die Arbeit unserer Projektpartner. Winde mich um die Partner, ähnlich dem Tanz des Brolgakranichs.

Doch nicht nur hier, in Göteborg, im fensterlosen Meetingraum stellt sich die Frage. Wie werde ich wahr genommen? Bin ich in einer Rolle? Versuche ich anderen das zu geben, was sie von mir erwarten? Mal der harte Kerl beim Basketball, mal introvertierte Julian Barnes Leser und dann wieder der, der vor Spelunken kotzt. Noch kürzlich wurde mir gesagt, ich solle mehr auf mich selber schauen und es nicht versuchen allen anderen Recht zu machen. Also leben nach Mark Manson Motto, und weniger “Fucks geben”. Ja so schwer es ist sich Fehler einzugestehen, das ist sicherlich einer. Bevor ich jemanden auf den Sack gehe, ziehe lieber eine Maske auf. Das mag im Meetingraum ein angemessener Ansatz sein, leider ist nur die Problemstellung wahres Leben komplexer und ich muss an etwas denken, dass ich im ersten Semester gelesen habe, als ich noch hoffte, ich könnte ein Intellektueller werden:

Wahrlich, ihr könntet gar keine bessere Masken tragen, ihr Gegenwärtigen, als euer Gesicht! Wer könnte euch erkennen!

Friedrich Nietzsche, “Also sprach Zarathustra”

Ja, ja der Fritz und sein optimistische Betrachtung. Ich werde manchmal das Gefühl nicht los, dass wir uns gar nicht wirklich weiterentwickelt. Ich sicherlich auch gar nicht bis minimal. Trage ich hier beim Warten noch die Maske, die der Projektpartner sehen will? Und morgen welche Maske trage ich da … ???